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AutorenbildRuediger Dahlke

Der verbundene Atem – als Tor zum Leben

Aktualisiert: 11. Okt. 2022


Die Atmung ist die für unser Leben unverzichtbare Form der Kommunikation. Alles Lebendige atmet und ist dabei ständig im Austausch miteinander, nur die Frequenz und Tiefe des Atems variiert in großer Breite. Während manche Wasserschildkröten die Luft über eine Stunde anhalten, gelingt es uns Menschen nur im Minutenbereich. Unserer Atmung, die unter Sauerstoffverbrauch die lebenserhaltenden Verbrennungsprozesse im Organismus unterhält, steht die Atmung der Pflanzen gegenüber, die anstatt Sauerstoff zu verbrauchen, ihn im Gegenteil im Rahmen der Photosynthese erzeugt. Dadurch wird die sauerstoffverbrauchende Oxidation in wundervoller Weise ergänzt und Pflanzen und Menschen beziehungsweise Tiere sind in einem großen Atemkreis seit Anbeginn der Zeiten, seit sie existieren, miteinander verbunden.


Wo immer wir hinsehen, erblicken wir Verbindungen, die der Atem schafft und erhält. Sobald wir aufhören zu atmen, fallen wir aus der Verbundenheit und das Leben in der polaren Welt der Gegensätze hört auf.


Vor allem aber ist der Atem Verbindungsglied von Körper und Seele, aber nicht nur das. Sein Einfluss reicht noch weit darüber hinaus bis zur göttlichen Sphäre der Einheit. Dadurch stellt die Atemfunktion eine einzigartige Beziehung zwischen Polarität und Einheit her, auf die einzugehen sich lohnt. Hier liegt die enorme Chance des verbundenen Atems, der leichter und beschwingter als andere Techniken, Brücken schlagen kann zwischen unserem Leben in der Polarität und seinem Ziel, der Einheit.


Der Atemstrom kommt – laut Bibel – von Gott und verbindet uns mit Gott und der Einheit. Es zeigt sich, dass in Momenten transzendentaler Erfahrung, wenn sich die Grenzen von Zeit und Raum auflösen und der Mensch reines Sein erlebt, der Atem zum Stillstand kommt, ohne dass wir physisch sterben. Lediglich das Ego stirbt in solch begnadeten Momenten. Betroffene gelangen in die Welt jenseits des Todes, wo alle vertrauten Gesetze, die sich auf Raum und Zeit stützen, ihre Bedeutung verlieren. Entwickelte Menschen wie verschiedene Meditierende von indischen Gurus bis zu tibetischen Lamas haben solche Experimente über sich ergehen lassen. Es zeigte sich, dass der Atem in solch ekstatischen Zuständen der Transzendenz steht.


Über Ein- und Ausatem bindet uns die Lungenfunktion also an die polare Welt der Gegensätze, hört sie auf, hört auch die Welt der Gegensätze für uns auf zu existieren, und es beginnt eine Dimension, der nur noch religiöse Beschreibungen gerecht werden.


Das ist der Punkt, an dem östliche Atemübungen wie Pranayama ansetzen. Die Philosophie des Ostens spricht der Atemfunktion über die reine Versorgung mit Sauerstoff und damit Brennstoff hinaus, die Fähigkeit zu, den Organismus mit feinstofflicher Energie zu versorgen, mit der Lebensenergie Prana. Allerdings bedarf es einer hohen Entwicklungsstufe, um allein von Prana leben zu können.

Auch die moderne medizinische Wissenschaft kann uns heute einige Atemgeheimnisse entschlüsseln. Jahrhunderte nach Paracelsus können wir inzwischen dessen Analogie-Gleichung „Mikrokosmos (Mensch) = Makrokosmos (Erde)“ am Beispiel der Lungen von Mensch und Welt gut nachvollziehen.


Allein schon die wissenschaftlich belegte Tatsache dieses Atemkreises, der alles organische Leben des Planeten einschließt, mag zeigen, dass die östliche Weisheitslehre nicht zu weit geht, wenn sie behauptet, alles Leben stünde miteinander in ständiger Verbindung. Wir sitzen mit den Tieren in einem Boot und dieses schwimmt auf jenem Sauerstoffmeer, das uns die grüne Vegetation der Pflanzen zur Verfügung stellt.


Wenn man nicht dieselbe Luft mit jemandem atmen will, steckt meist Ablehnung und oft auch Angst vor dem anderen dahinter. „Angustus“ heißt lateinisch eng und verrät noch vom Sprachbild die Angst, die dabei mit im Spiel ist. Wenn es eng wird im Leben, kann der Atem nicht mehr frei fließen.


Wo der Atem stockt, sind Angst und Schrecken meist nicht fern.


Hinzu kommt noch, dass der Beginn des Atems in der polaren Welt untrennbar mit der Enge des Geburtskanals verbunden ist. Der erste Atemzug war für die meisten von uns, die das Licht der Welt erblickten, bevor Frederic Leboyer die Geburt von beängstigenden Zwängen und Schikanen befreite, ein denkbar schreckliches Angsterlebnis. Kaum waren wir der Enge des Geburtskanals entronnen, wurde unsere noch pulsierende Nabelschnur gekappt. Damit aber wurden wir in ein existentiell bedrohliches Erstickungstrauma geschickt.


Die Lungenflügel mussten sich in diesem Panikgefühl des Erstickens ruckartig entfalten, was mit einem überwältigenden brennenden Schmerz erlebt wurde. Das Gefühl war in der Regel so entsetzlich, dass die meisten der solcherart zur Begrüßung gequälten Seelen zeitlebens nie mehr einen solch tiefen Atemzug wagten. Ergebnis ist jenes Geatme, was wir bei vielen Erwachsenen erleben, die sich nur noch einen geringen Teil jener Energie nehmen, die ihnen eigentlich zustünde.


Auf der anderen Seite kann die spätere Begegnung mit dem eigenen vollen Atem, wie sie die Therapie des verbundenen Atems ermöglicht, zu ganz unglaublichen Energiephänomenen führen, die zeigen, wie anders wir eigentlich gemeint sind.


Bei dieser Atemtechnik wird ohne Unterbrechung Ein- und Ausatem zu einer Art Atemkreis verbunden, wodurch deutlich mehr Sauerstoff beziehungsweise Prana hereingeholt und deutlich mehr Kohlendioxid abgeatmet wird.


Das Ergebnis ist eine bewusste Überschwemmung des Organismus mit Energie.


Dieser Überfluss kann nicht nur in einem fließenden und vibrierenden Gefühl von Lebendigkeit in allen Körperregionen spürbar werden, sondern sich auch in einem ungewohnt mächtigen Energiestrom äußern, der an Barrieren und Blockaden brandet und hier zu unangenehmen Sensationen von Enge und Verkrampfung führt. Lassen die Betroffenen jedoch ihren Einatemstrom kontinuierlich weiter fließen, wird seine Kraft immer stärker und kann schließlich die Blockaden wegspülen, was Erfahrungen von Befreiung und Erleichterung mit sich bringt und bis in transzendente Bereiche führen kann. Keine andere Therapieform verbessert nach meinen Erfahrungen in so kurzer Zeit mit so relativ geringem Aufwand die energetische Situation so nachhaltig wie der verbundene Atem. Der Atem wird so geradezu zum Königsweg.


Den befreienden Erfahrungen auf der körperlichen Ebene entsprechen ähnlich lösende Erlebnisse im seelischen Bereich. Knoten, die energetisch aufweichen, verschwinden erfahrungsgemäß auch körperlich und können seelisch leichter losgelassen werden. Selbst spirituelle Erfahrungsebenen werden über den verbundenen Atem zugänglich, und nicht selten ergeben sich Gipfelergebnisse und Lichterfahrungen auf diesem Weg. Dass solchen transzendenten Erlebnissen auf der körperlichen Ebene ein verblüffend langes Stillstehen des physischen Atems entsprechen kann, ist nach den eingangs erwähnten Zusammenhängen wenig verwunderlich und hat sich über drei Jahrzehnte als ebenso ungefährlich wie wundervoll erwiesen.


Für den Erlebenden sind diese Momente unbeschreiblich und entziehen sich unserem an polare Sinneswahrnehmung gebundenen sprachlichen Darstellungsmöglichkeiten, zumal Raum und Zeit in diesen Bereichen nicht mehr im üblichen Sinn existieren. Was dem äußeren Betrachter – etwa dem Atemtherapeuten als eine Minute erscheint – kann für den Transzendierenden eine zeitlose Erfahrung von Einheit und Unendlichkeit sein.


Wie sich die Tiefenpsychologie der mythologischen Assoziationen der Antike bediente, um ihre Erfahrungen mit Bildern beziehungsweise Archetypen zu umschreiben, ist der verbundene Atem analog ein Mittel der Höhenpsychologie, um Vorgriffe auf die himmlischen Sphären unseres letztendlichen Lebenszieles, die Befreiung oder Erleuchtung, zu ermöglichen. Insofern möchte ich den verbundenen Atem als Mittel und Weg in meinen Seminaren nicht mehr missen.


Das unglaubliche Gefühl von Freiheit nach solch einem Erleben, die Möglichkeit (be-)frei(t) (durch)atmen zu können, die unbeschreibliche Leichtigkeit des Seins lassen für den Erlebenden jeden Zweifel an der Sinnhaftigkeit solchen Erlebens schwinden. Es ist die existentielle Erfahrung mittels der eigenen Lungenflügel zu einem geflügelten, wenn nicht himmlischen Wesen zu werden, das sich seiner eigentlichen Bestimmung nähert.


So ist der verbundene Atem sowohl Selbstheilungsversuch des Organismus als auch wichtiges therapeutisches Mittel, um energetische Hindernisse zu beseitigen und das eigene volle Potential zu verwirklichen.


Er wird so zu einem wundervollen Tor zur Fülle des Lebens. Seit Jahren veranstalte ich unsere Atem- und Energie-Woche in TamanGa und darf dabei miterleben, wie die Lebensenergie sich befreit und den Körper als Haus der Seele in verblüffender Weise regeneriert und belebt. Auch in anderen meiner Seminare in TamanGa spielen Atem und der Verbundene Atem eine wichtige Rolle.


In jedem Fall gilt:

Wie wir im allgemeinen atmen, reicht zum Überleben. Leben aber ist mehr, und der verbundene Atem kann uns die Tür dazu öffnen.

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